© Randy Colas

Demokratie in der Krise

Die Wahl in Thüringen Ende Oktober 2019 hat ein Patt hervorgebracht: Nach dem üblichen »Rechts-links-Schema« ist keine Regierungsbildung möglich. »Rot-rot-grün« hat nicht genügend Stimmen erhalten; »schwarz-blau« wird ausgeschlossen; zu allem anderen erübrigt sich die Diskussion.

s. auch: Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen

Der Wille des Volkes

Woher kommen die hohen Wahlergebnisse der AfD? Peter Gauweiler MdB (CSU) sagte dazu heute morgen im Podcast Steingarts Morning Briefing, die Volksparteien seien »in der Krise, weil sie sich zu oft von Volkes Wille entfernt« hätten und wenn sie dies ändern wollten, müssten sie sich ihm wieder nähern, beispielsweise in den Fragen Euro, Zuwanderung und unserem Verhältnis zu Russland. Dietmar Woidke (SPD), (knapp) wiedergewählter Ministerpräsident von Brandenburg sagte kürzlich ähnliches, nämlich man müsse »mehr zuhören, mehr rausgehen«. Tatsache ist: Die beiden alten Volksparteien, CDU und SPD, haben sich inhaltlich zu weit nach rechts und links bewegt; in der Mitte ist eine Lücke entstanden.

In dieser Lücke liegen thematisch die »großen« Themen unserer Zeit, die Themen nämlich, die zugleich im alten »Rechts-links-Schema« nur schwer zu fassen sind: Klimawandel, Krieg, Flucht, Währungsstabilität, um nur einige zu nennen. Hier wäre es geboten, dass alle demokratischen Parteien gemeinsam nach konstruktiven Lösungen suchen, die der Tragweite der Probleme gerecht werden. Parteipolitische Profilierung sollte dabei hintenanstehen.

Genau diese Themen benennt die AfD nun und weist auf die Unfähigkeit der etablierten Parteien hin, sie – gemeinsam oder allein – zu lösen. Aber sie bietet nicht etwa einen ausgleichenden Kompromiss, sondern eine erst recht parteitaktisch motivierte Extremposition an. Sie will gar nicht Teil der Lösung sein, denn je mehr sie auf bestehende Probleme hinweisen kann, umso länger kann sie dadurch versuchen, Wähler zu gewinnen.

Wahlen als delegierte Verantwortung

Die Demokratie steht vor einer schweren Herausforderung:

  • Einerseits erfordern die dringlichsten Probleme von heute schnelle entschiedene Lösungsschritte, die oft weit über die Kompetenz einzelner Regierungen hinausgehen. Denn die wesentlichen Probleme heute sind globaler Natur, seien es der Klimawandel, die internationale Finanzstabilität, gerechter Welthandel und viele mehr. Hier gibt es vielfach gar kein Gremium, das demokratisch legitimierte Entscheidungen mit weltweiter Tragweite treffen könnte. Im Ergebnis bleibt entweder, dass man sich mit den Entscheidungen einzelner mächtiger Player abfindet, oder die Einsicht, dass man demokratische Entscheidungen herbeiführen muss, während man die entscheidenden Gremien gerade erst schafft. Wie das gelingen soll? Es wird schwierig werden, weil es nur im Rahmen einer großen gesellschaftlichen Debatte wünschbar ist.

  • Andererseits ist in den Umfragen – wie etwa heute im o. g. Podcast – vielfach herauszuhören, dass die meisten Wähler offenbar ihre politische Verantwortung ganz gern mit der gelegentlichen Beteiligung an einer Landtags- oder Bundestagswahl erschöpfend ausgeübt sehen. Politische Debatten und Entscheidungen werden am Wahltag delegiert und am nächsten Wahltag bewertet. That’s it.

Viele Wähler, so scheint es, machen es sich zu leicht. Es funktioniert nicht, die »alten« Parteien dazu aufzufordern, »neue« Lösungen zu entwickeln, indem man eine Protestpartei wählt. Diese wird das Wahlergebnis stets als Zustimmung zu ihrem Wahlprogramm interpretieren dürfen. Es muss daher – über die einzelnen Wahlen hinaus – eine stärkere inhaltliche politische Auseinandersetzung geben, und zwar sowohl innerhalb der politischen Klasse als auch zwischen Politkern und Bürgern, ja sogar über Staatsgrenzen hinweg.

Neue Protestbewegungen

Sind Demonstrationen wie die Fridays-for-Future-Bewegung, Proteste gegen TTIP oder Pulse of Europe nicht Gegenbeispiele für den politmüden Wähler? Zum Teil, vielleicht. Wichtig wäre anzuerkennen, dass diese Bewegungen weitestgehend – oder ausdrücklich – überparteilich sind. Sie könnten die Keimzelle einer neuen demokratischen Debattenkultur sein, die über die alten Muster der Parteien in Deutschland hinausgeht.

Vielleicht ist dies zu visionär. Sie könnten auch der Anlass für die Volksparteien sein, die neuen Themen aufzunehmen und dabei die bewegten Bürger, als Diskutanten, neue Mitglieder oder schließlich Wähler, zu integrieren. So oder so – politische Entscheidungen müssen in der Mitte gefällt werden, nach ausgiebiger Diskussion und auf der Grundlage einer breiten Mehrheit – sonst riskiert die Demokratie sich selbst.