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Der Vertrag von Lissabon: Eine demokratischere EU?

Durch das Einstimmigkeitsprinzip herrscht in der EU eine »ultra-Demokratie«, die mit einer »ultra-Transparenz« einhergeht. Allerdings kommen die Institutionen der EU damit noch nicht so richtig klar.

Die EU sei undemokratisch, ist eine häufig geäußerte Kritik. Beispielsweise gebe es keine echte Gewaltenteilung zwischen Legislative und Verwaltung, die Rechte des Europäischen Parlaments seien zu eng geschnitten – beispielsweise hat es nicht das Initiativrecht für Gesetzesvorhaben – und das ganze System sei zu intransparent. Auch das Fehlen einer Verfassung wird oft kritisiert.

All’ diese Kritikpunkte gehen am Kern der Sache aber vorbei. Denn die EU ist kein eigener Staat. Vielmehr führt ihre Konstruktion als Staatengemeinschaft zu einer Ultra-Demokratie, in der fast alles einstimmig verabschiedet werden muss. Und die Komplexität der Brüsseler (und Straßburger) Institutionen mit ihrem vielfältigen Dokumentenaustausch führt zu einer Art Ultra-Transparenz, die für den Uneingeweihten treffend mit dem Satz »Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht« umschrieben werden kann.

Nach dem Vertrag von Lissabon ist das Mitentscheidungsverfahren zum Regelverfahren der europäischen Gesetzgebung geworden. Das Europäische Parlament kann nun in fast allen Bereichen die Gesetzesvorschläge der EU-Kommission ändern oder ablehnen. So müssen bei fast allen Rechtssetzungvorhaben der EU Rat, Kommission und Parlament zusammenarbeiten. Im Endeffekt läuft dies faktisch auf eine Einstimmigkeit der Positionen der nationalen Regierungen, der EU-Verwaltung und der Vertretung der Bürger der EU hinaus.

Wie nicht anders zu erwarten, ist eine solche Einstimmigkeit nicht leicht auszuhandeln. Bisher gab es das Mitentscheidungsverfahren nur in wenigen Rechtsgebieten der EU (u. a. beim Verbraucherschutz). Zur Vorbereitung und zum informellen Austausch hatten sich Verfahren und Gremien entwickelt, die paritätisch von Mitarbeitern aus den drei Organen besetzt waren – die sogenannte Komitologie. Die sozusagen flächendeckende Einsetzung des Mitentscheidungsverfahrens erfordert nun die Etablierung entsprechender Gremien und Verfahren für alle Politikbereiche. Und genau davon hat in Brüssel fast ein Jahr nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon und drei Jahre nach dessen Unterzeichnung noch niemand wirklich einen Schimmer.

Ein erster Aspekt des Demokratiedefizits der EU besteht also darin, dass die eigentlichen Verwaltungverfahren zur Aushandlung und Umsetzung von EU-Gesetzgebung ganz allgemein bis heute nicht verlässlich niedergelegt sind. In Brüssel sprechen derzeit alle mit allen, irgendwie. Diese schlechte Vorbereitung der Gesetzgebung zeigt schon erste Beispiele schlechter oder verzögerter Rechtssetzung: Die erste Lesung der Lebensmittelinformationsverordnung im Europäischen Parlament musste vor der Sommerpause im vergangenen Jahr vertagt werden. Das Verfahren wurde praktisch neu aufgerollt, da sich nach der Sommerpause ein neu gewähltes Parlament und eine neue EU-Kommission in die Materie einlesen mussten. Beim ersten Anlauf hatte es zudem über 1.000 Änderungsvorschläge gegeben; beim zweiten Anlauf waren es noch über 500.