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Die größte Wirtschaftskrise seit 1979: Inflation, Gasmangel, Planung und Hoffnung

Wir schreiben das Jahr 2022. Die Covid-19-Pandemie wütet seit gut zwei Jahren, und sie ist nocht nicht vorbei. Im Februar hat Russland mit seinem völkerrechtswidrigen Überfall auf die Ukraine einen Krieg mitten in Europa begonnen. Jetzt droht eine akute »Gasmangellage«, falls Russland seine Gaslieferungen nach Deutschland stoppen sollte. Die Pandemie und der Krieg haben die globalen Lieferketten vollkommen aus dem Gleichgewicht gebracht. Weizen und Öle aus der Ukraine, Gas aus Russland, Elektronikbauteile aus China und praktisch alle anderen Rohstoffe und Fertigprodukte aus aller Welt kommen gar nicht oder sehr viel später und vor allem sehr viel teurer ins Land.

Auf eine Krise kann man sich nicht vorbereiten

In der Praxis fliegt den Unternehmen jede Kalkulation um die Ohren. Wenn Erdgas binnen zwölf Monaten um 150 % teurer wird, wenn die Glashersteller im Mai 30 % mehr verlangen oder mit einem Lieferstopp ab Juni drohen, wenn die Preise für Transportdienstleistungen, Verpackungsmaterial und Paletten in einem halben Jahr um mindestens um 50 % steigen, ist jede unternehmerische Planung Makulatur.

Zwar waren viele dieser Entwicklungen schon Anfang 2021 erkennbar. China kaufte plötzlich Unmengen an Gas aus Russland, diese Mengen fehlten in Europa, und der Gaspreis stieg. Wegen der Pandemie standen Häfen still, lagen Fahrer krank im Bett. Die Containerpreise stiegen im vergangenen Jahr von 1.000 auf 8.000 Euro für eine Fracht aus Fernost nach Europa.

Doch eine vorausschauende Preispolitik ist für Unternehmen nur möglich, wenn Verkäufer und Käufer diese neue Realität gemeinsam akzeptieren. Wenn der Käufer nicht wahrhaben will, dass die Kalkulation des Verkäufers nur aufgehen kann, wenn er höhere Preise aufruft, dann bleiben die Endkunden zwar vorerst von steigenden Preisen verschont – aber eine vorausschauende Anpassung ist das nicht.

In den meisten Branchen versuchten die Unternehmen daher vergeblich, die gestiegenen oder die erwarteten steigenden Kosten an ihre Kunden weiterzugeben. Dennoch sind die Preissteigerungen für die Verbraucher schon heute sehr real. Die Inflationsrate in Deutschland lag im Mai 2022 erstmals seit 50 Jahren bei über 8 Prozent.

Die meisten aller Verbraucher sind auch Arbeitnehmer. Auch sie konnten sich auf die Preissteigerungen nicht vorbereiten. Denn Lohnverhandlungen werden gewöhnlich nur einmal im Jahr geführt. Für viele reicht das bisherige Einkommen daher momentan »vorne und hinten« nicht mehr und es stellt sich die Frage: Weniger essen oder weniger heizen? Wenn das überhaupt geht. Im Einzelhandel ist jedenfalls deutlich zu beobachten, dass die Verbraucher noch mehr als in Deutschland üblich zu Preiseinstiegsprodukten greifen und kleinere Portionen kaufen. Der »Bon« an der Kasse sinkt. Die Gewerkschaften fordern höhere Löhne – aus ihrer Sicht konsequent, aber auf Unternehmerseite verschärft dies nur den allgemeinen Kostendruck. Bereits im Januar war das Schreckenswort »Lohn-Preis-Spirale« in Unternehmerkreisen zu hören.

Auf Dauer kann niemand seine Waren mit Verlust verkaufen. Wer seine Preise nicht anpassen kann, dem bleibt also nur, die Produktion zu drosseln oder ganz einzustellen. Seit März werden daher reihenweise langfristige Verträge mit Verweis auf »höhere Gewalt« aufgekündigt. Nach einer entsprechenden Regelung im Paragraf 313 des Bürgerlichen Gesetzbuchs können Vertragspartner, die die eingegangenen Verpflichtungen nicht unterschrieben hätten, wenn sie die extreme Veränderung der Geschäftsgrundlage vorhergesehen hätten (wer konnte den Krieg in der Ukraine vorhersehen?), von der anderen Vertragspartei Neuverhandlung der Verträge verlangen oder nach einer Frist einseitig den Vertrag »aufkündigen«. Doch eine Lösung ist dies selbstverständlich nicht: Entweder sinken Produktion, Beschäftigung und Warenverfügbarkeit, oder in neuverhandelten Verträgen stehen nun höherer Preise. Es drohen die Schreckgespenster Rezession und Inflation.

Hilfe von der Regierung?

In dieser Situation blicken Unternehmer, Verbraucher, Arbeitnehmer und Wähler hilfesuchend auf die Bundesregierung. Diese hat für die Verbraucher einen Tankrabatt, ein 9-Euro-Ticket und einen einmaligen Transfer von 300 Euro (brutto) pro Person »locker gemacht«. Der Bundeskanzler hat sich mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern zusammengesetzt und schlägt in einer »konzertierten Aktion« Einmahlzahlungen vor, um keine Lohn-Preis-Spirale in Gang zu setzen. Der Umbau des Energiesystems soll vier Jahre lang mit dem Einbau von jährlich 500.000 Wärmepumpen in deutschen Wohngebäuden gefördert werden. Dem drohenden Gasstopp aus Russland begegnet die Bundesregierung mit einem Appell zum Energiesparen und der Vorbereitung von Abschaltplänen für die Industrie.

All dies findet in atemberaubendem Tempo statt. »Startschuss« – im wahrsten Sinne des Wortes – war der Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Feburar 2022. Jetzt schreiben wir Anfang Juli. Doch ist es richtig und ausreichend, was die Regierung tut? Hat sie den richtigen Plan? Vergessen wir nicht, sie ist erst seit Oktober 2021 im Amt. Aber es wäre falsch, der Regierung vorzuwerfen, sie sei nicht auf die Krise vorbereitet.

Erstens ist der mögliche politische Einfluss auf die Wirtschaft im System unserer sozialen Marktwirtschaft begrenzt, und das aus gutem Grund. Politiker sind keine Unternehmer; im allgemeinen regelt ein Markt – ausreichend Wettbewerb vorausgesetzt – die Zuteilung knapper Ressourcen auf die am meisten nutzenstiftende Verwendung wesentlich besser als eine Bürokratie. Der Zusammenbruch der kommunistischen Sowjetuntion und die Staatspleite der DDR sind anschauliche, immer noch recht aktuelle, Beispiele aus der Geschichte.

Zweitens hat die Regierung tatsächlich einen Notfallplan, zumindest für die Gasmangellage. Seit Ende Juni gilt die »Alarmstufe«; kommt jetzt noch eine ausreichend schwerwiegende Drosselung der Importmenge hinzu, kann die Regierung sowohl die Gaspreise bestimmen, als auch, wer überhaupt Gas bekommt: Kriegswirtschaft also. Mit anderen Worten: Wenn der Markt zusammenbricht, übernehmen die Bürokraten.

So wenig staatliche Eingriffe wie möglich

Ob das der richtige Weg ist? Vermutlich ist es dem Wirtschaftsminister selbst mulmig bei dem Gedanken, denn er zögert den Eintritt dieser Situation so lange wie möglich heraus: Gasverbraucher sollen jetzt schon freiwillig Energie sparen; man genehmigt im Hau-Ruck-Verfahren LNG-Terminals, setzt sich weltweit diplomatisch für Gasimporte aus anderen Regionen ein.

Zugleich versucht die Bundesregierung im Eilverfahren, neue Instrumente zu schaffen, mit denen sie ihren eigenen Eingriff in die Wirtschaft vermindern oder verhindern kann. So soll noch in der letzten Sitzungswoche von Bundesrat und Bundesrat vor der Sommerpause ein Gesetz erlassen werden, das die Einführung einer Gasumlage vorsieht. Damit sollen Preiserhöhungen auf möglichst viele Schultern verteilt werden, ohne die zugrundeliegenden Verträge selbst aufzumachen. Statt eines Eingriffs in die Preisbildung würde der Gesetzgeber lediglich die Preisspitzen »einebnen«. Weiterhin soll möglicherweise eine Auktion eingeführt werden, die – auf marktwirtschaftliche Weise – einen Ausgleich zwischen regional verschiedenen Mangelsituationen erleichtern könnte.

Die Lobbyisten aller Wirtschaftszweige haben in den vergangenen Wochen vor allem eines getan: Sie haben Wirtschaftsministerium und Bundesnetzagentur klar zu machen versucht, dass »ihr« Wirtschaftszweig »systemrelevant« sei und auf keinen Fall abgeschaltet werden dürfe. Klar, Lebensmittel. Klar, Chemie und Pharmazie. Klar, Verpackungsmaterial. Klar, Transportdienstleistungen. Klar, Automobilindustrie (wegen der Arbeitsplätze). Aus dem Wirtschaftsministerium heißt es, 90 % der deutschen Industrie hätten nachvollziehbar begründet, warum sie auf die volle Gasversorgung angewiesen seien. Für die Politik eine unlösbare Situation. Und, ehrlich gesagt, für Lobbyisten keine erfolgversprechende Strategie. Aber Lobbying ist in dieser Frage ohnehin nicht so relevant, wie es scheint.

Planung, und das Prinzip Hoffnung

Denn kommt es zum »Gas-Blackout«, so werden wir feststellen, dass weder Markt noch Bürokratie die Steuerung übernehmen können. Die Frage, wer Gas erhält und wer nicht, ist letztlich eine rein technische. Damit eine Gasversorgung überhaupt funktioniert, muss im Netz ein ausreichender Druck vorhanden sein. In Deutschland gibt es aber kein einzelnes großes Gasnetz, sondern eine Vielzahl kleiner, regionaler Subnetze. Einige davon sind stärker von russischem Gas abhängig als andere; auch die Gasspeicher sind nicht überall gleich voll. Wenn Gas abgestellt wird, dann dort, wo eine Versorgung schlicht nicht mehr aufrechtzuerhalten ist.

Ein wenig mag man das steuern können, indem man Lasten verteilt, Produktionslinien zeitweise schließt oder zu anderen Zeiten betreibt. Nur wird sich das kaum im vorhinein planen lassen, weder von Unternehmen – einzeln oder gemeinsam –, noch von der Politik. Auch wenn der BDI dazu rät, sich vorzubereiten und entsprechende Pläne zu entwickeln: Wir werden es schlicht erleben. Alle Unternehmen an jenen Leitungen nützt ihre »Systemrelevanz« dann gar nichts mehr. Die Komplexität unseres Energieversorgungssystems »fällt uns in der Krise auf die Füße«. Wir müssen planen, aber eigentlich können wir nur noch hoffen.

Die Hoffnung, sie besteht darin, dass Russland aus eigenen Interessen den Gashahn wieder aufdreht. Erstens braucht auch Russland die Einnahmen aus dem Gasgeschäft. Die Lieferungen nach Deutschland betrugen bis 2020 rund 180 Mrd. Kubikmeter im Jahr. Schwer vorstellbar, dass dies alles so einfach nach Indien oder China umgeleitet werden kann. Zweitens ist der russischen Führung womöglich die Drohung mit dem Gasstopp wichtiger als dessen Durchführung. Abstellen kann man nur einmal, drohen kann man fortwährend. Und drittens ist die Weltwirtschaft (zum Glück) so vernetzt, dass eine Wirtschaftskrise in Deutschland, mit ihren Auswirkungen auf Europa und den Rest der Welt, wohl auch Russland wiederum ökonomisch treffen würde. Dort kann man an einer weiteren Verschärfung des wirtschaftlichen Downturns bei klarem Verstand auch kein Interesse haben.