© Frederic Köberl

Die Willensbildung in modernen Parlamenten

Die Kunst des Lobbyings wird sich ändern – von der Sachebene zur Beziehungsebene. Der Lobbyist von morgen ist zwar nicht weniger Sachkenner als früher. Aber seine Botschaft allein reicht nicht mehr. Ihre Vermittlung, Darstellung und Verkörperung sind ebenso wichtig geworden.

Die drei Säulen der Verbandsarbeit

Als ich vor 15 Jahren Lobbyist wurde, sah die Welt ganz anders aus. Der Lobbyist nannte sich Verbandsgeschäftsführer, und dies war auch sein Selbstverständnis. Die Geschäfte eines Verbandes fielen im wesentlichen in einen von drei Aufgabenbereichen:

  • Er stellte eine Plattform für die Mitglieder dar, auf der sie sich begegnen und über den Markt austauschen konnten.

  • Der Verband informierte seine Mitglieder über anstehende Gesetzesvorhaben und half bei der Umsetzung bestehender Regelungen in die Praxis.

  • Schließlich koordinierte der Geschäftsführer die Interessen seiner Mitglieder und vertrat sie wiederum gegenüber der Ministerialbürokratie.

Auf den Punkt gebracht, befasste sich der Verbandsgeschäftsführer – abgesehen von der Organisation von Verbandstagungen (erster Punkt) – im wesentlichen mit Sachfragen, und seine Hauptaufgabe war die eines Beraters: Nach innen wie ein Unternehmensberater (zweiter Punkt) und nach außen als Politikberater. Das Wort Lobbying scheute er. Seine Arbeit war bestenfalls »beratendes Lobbying«.

Die sachliche Herangehensweise an politische Fragestellungen war richtig, wurde erwartet und passte ins Bild. Denn die meisten gesetzlichen Vorhaben wurden vornehmlich zwischen Fachleuten diskutiert. Der fachliche Austausch zu gegenseitigem Nutzen zwischen den Gesetze und Verordnungen entwerfenden Fachbeamten in den Bundesministerien und der EU-Kommission einerseits und den Fachexperten der Verbände andererseits hat eine lange Tradition. Verbände waren Berater und Vermittler.

Der Gesetzgeber, insbesondere im Lebensmittelrecht, aber zunehmend in allen öffentlichen Bereichen, war zudem mit der EU eine Institution, die von der fachlichen Seite her – man kann auch sagen »bürokratisch« – vorging. Die wichtigsten Kontakte waren die zu den »federführenden« Beamten der EU-Kommission.

Diese Zeiten haben sich deutlich gewandelt

(1) Die »Plattform«, die keine mehr ist

Der erste Bereich der Verbandsarbeit, die »Plattform« ist aus kartellrechtlichen Gründen weggefallen. Selbstverständlich war ein Informationsaustausch über Preise und Strategien zwischen Wettbewerbern früher kartellrechtlich genauso verboten wie heute. Die allermeisten Verbände – oft unter dem Generalverdacht, Absprachen zu fördern – haben sich stets gesetzeskonform verhalten. Dennoch scheuen sie heute davor zurück, übermäßig Raum für Gespräche der Mitglieder untereinander anzubieten und haben die Tagesordnungspunkte »Marktlage« und »Statistik« aus ihren Sitzungen gestrichen. Es gibt sogar Verbände, die auf Anraten ihrer Anwälte ihre Imagebroschüren eingestampft haben, weil diese das Wort »Plattform« enthielten.

(2) Verbände als Unternehmensberater

Die zweite »Säule« der Verbandsarbeit ist für Verbände heute eine echte Herausforderung: Es reicht nicht mehr, Informationen über Gesetzesvorhaben und ihre Auswirkungen auf die Praxis oder Auslegungshilfen anzubieten. In den meisten Fällen ist Google schneller und umfassender. Unternehmen sind nicht mehr wegen der Informationen, die ein Verband anbietet, Mitglied. Gab es früher oft einen Wettbewerb zwischen »benachbarten« Verbänden darum, wer eine Information schneller veröffentlichte, so kann es heute nur darum gehen, wessen Information exklusiver, tiefgründiger, näher an der Praxis oder sonst für die Unternehmen wertvoller ist. Das erfordert neben einer profunden Sachkenntnis vor allem die Zeit, alles wesentliche zu einem Thema zusammenzutragen, zu analysieren abzuwägen und schließlich »mundgerecht« darzustellen. In einer Zeit, in der die Zahl der Unternehmen in jeder Branchen sinkt und der Kostendruck steigt, ist dies für Verbände – die diesen Zwängen ebenfalls, wenn auch mit etwas Zeitverzug, ausgesetzt sind – immer schwieriger zu leisten. So geht der Trend dahin, für einfache, »nackte« Informationen auf das Internet zu verweisen und tiefgründige Analysen an externe Agenturen, Berater und Wissenschaftler zu vergeben.

Damit ist auch eine Verschiebung innerhalb der Verbandsbudgets impliziert: Statt in eigene Arbeit und eigene Mitarbeiter (Status!) wird vermehrt in externe Arbeit investiert. Zugleich steigt wieder der Koordinationsaufwand und damit die Rolle des Verbandes in der “ersten Säule”.

(3) Beratendes Lobbying

Somit bleibt der dritte Bereich: Die Politikberatung. Hier ist der Wandel am stärksten. Denn konnte man früher auf der Sachebene diskutieren, muss man heute verstärkt zu anderen Mitteln greifen. Grund ist letztendlich ein Mehr an Demokratie, insbesondere in Europa.

Mit dem Vertrag von Lissabon hat das Europäische Parlament im Jahr 2009 einen deutlichen Machtzuwachs erhalten. In fast allen Politikbereichen entscheidet es nun mit – während es früher meist nur angehört werden musste. Damit ist es nicht mehr nur damit getan, die EU-Kommission zu beraten. Diese hatte das alleinige Vorschlagsrecht für Gesetzgebungsvorhaben, und diese konnten nur mit qualifitierter Mehrheit im Rat geändert oder abgelehnt werden, während das Parlament im Prinzip nur zusehen durfte. Die Rolle der EU-Kommission war die des »wohlwollenden Diktators« nicht fern.

Heute hingegen geht nichts ohne das Placet des Parlaments. Die Abgeordneten des EP aber stimmen sich in der Regel eng mit ihren Kollegen in den nationalen Parlamenten ab, die wiederum die Meinungen ihrer Regierungen und damit die Mehrheitsverhältnisse im Rat entscheidend beeinflussen. Ein Gesetzesvorhaben hängt daher heute immer weniger an der EU-Kommission als an den einzelnen Abgeordneten in Brüssel und den Mitliedstaaten.

Diese nun sind nicht notwendigerweise an einer sachlichen Diskussion von Fachfragen interessiert. Dies mag daran liegen, dass sie mit den Fragen, mit denen ein Lobbyist zu ihnen kommt, bisher wenig Berührung hatten und somit selbst fachlich nicht versiert sind. Sie mögen auch eine andere Herangehensweise haben, emotional zum Beispiel, oder sie haben eine ideologische Vorprägung.

Gewählte Politiker müssen darüber hinaus nicht einmal zwangsweise das »Große Ganze« im Auge haben. Es ist systemimmanent, dass sie zunächst an ihren eigenen Wahlkreis denken, in dem sie gewählt wurden, um die Interessen der dortigen Mehrheit zu vertreten, auf das sie wiedergewählt werden.

Der Lobbyist muss nun eine schwierige Aufgabe vollbringen: Die Beratung der Beamten im Hinblick auf die fachlich »beste Lösung für alle« führt nicht weit genug; er muss also in jedem Fall eine Mehrheit für sein Thema in den Parlamenten gewinnen. Dort jedoch kommt er mit dem gewohnten »beratenden Lobbying« nicht weiter. Er muss andere Wege gehen.

Überreden statt Überzeugen?

Wie an bereits ausgeführt, ist es zunächst notwendig, die Meinungsführer in den Parlamenten auf seine Seite zu bringen. Der Weg dahin ist so individuell wie die jeweiligen Personen.

Die Leserin mag an dieser Stelle dazu neigen, die offensichtlichen Methoden anzunehmen: Überredung, Geschenke, Bestechung, Erpressung … Die Praxis sieht anders aus. Es geht darum, das Interesse des Politikers an seiner Wiederwahl mit dem Interessen der vertretenen Gruppe in Einklang zu bringen. Zur Zeit sehe ich dazu zwei Wege.

  1. Der konstruktive Weg ist, den Politiker von der Richtigkeit des eigenen Vorschlags zu überzeugen. Das geht letztendlich doch wieder nur über Sachargumente. Wesentlicher dabei sind aber die in dem Prozess vermittelten Werte: Wahrheit, Verlässlichkeit, gute Absicht. Diese Werte sind die Brücke zwischen Lobbyist und Politiker.

  2. Der zweite, destruktive Weg ist der Aufbau öffentlichen Drucks – meist über die Medien. Es muss für den Politiker mit hohem Schaden verbunden, ja unmöglich sein, anders zu entscheiden. Wer nun an mediale Schlammschlachten und Schmutzkampagnen denkt, liegt allerdings wieder falsch. Denn die Zeitungsleser und Fernsehzuschauer, Redakteure und Journalisten sind nicht dumm – und unter Zeitdruck. Nur eine knappe, klare, in sich schlüssige und letztendlich wahre Botschaft kommt an: Nur sie ist attraktiv für die Berichterstattung, nur sie kann »hängenbleiben«.

Weil das Lobbying viel öffentlicher wird, wird mit der Sachfrage auch immer mehr der Absender verbunden und öffentlich bekannt. Daher muss nicht nur die Botschaft, sondern auch der Absender die positiven Werte wie Wahrheit und Klarheit ausstrahlen.

Die Kunst des Lobbyings wird sich also ändern: Weg von der Sachebene, hin zu Beziehungsebene. Der Lobbyist von morgen ist zwar nicht weniger Sachkenner als früher. Aber seine Botschaft allein reicht nicht mehr. Ihre Vermittlung, Darstellung und Verkörperung sind ebenso wichtig geworden. Der Lobbyist kann sich nicht hinter der Maske des »Beraters« verstecken, er ist »Partei« geworden. Er wird mit seiner Botschaft identifiziert. Er sollte sich mit ihr identifizieren.