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Erzählen Lobbyisten nur die halbe Wahrheit?

In Brüssel und Berlin kann man bei einigen NGOs Führungen durch das jeweilige »Lobbyviertel« buchen. Dort wird man von jungen engagierten Politikstudenten durch die Straßen vor die Bürotürme geführt, in denen die einflussreichen Verbände der großen Branchen sitzen und angeblich ihre Pläne zur Übernahme der Weltherrschaft aushecken. Deren Methoden seien nicht immer astrein, heißt es dann. Neben dem Vorwurf, politische Entscheidungen würden einfach »gekauft«, hört man, es werde dort gezielt mit Mitteln der Missinformation gearbeitet. (Beachte: Beides geht nicht zusammen. Wer eine Meinung kauft, braucht nicht zu lügen.)

Nehmen wir einmal einen Moment lang an, Politiker – nur um sie soll es hier vereinfachend gehen – seien nicht korrupt, sondern nur generell schlecht informiert. Erscheint es da nicht geradezu verlockend, sie einfach solange mit falschen Informationen zu bombardieren, bis sie die eigene Geschichte glauben? Man könnte das noch mit entsprechender Medienarbeit (Zeitungsartikel, Interviews usw.) unterstützen, dann wäre der Politiker sich auch der Unterstützung durch die öffentliche Meinung sicher. Oft angeführte Beispiele für gezielte Desinformation sind die Veröffentlichungen der Öl- und der Tabakindustrie, vor allem in Amerika, und der Lebensmittelindustrie, vor allem in Deutschland. Auf den ersten Blick scheint es also zu stimmen: Lobbyisten erzählen bestenfalls die halbe Wahrheit.

Nur leider hat kein Lobbyist, kein Verband, und sei er noch so groß, eine Alleinstellung. Immer gibt es eine Marktgegenseite. Der Zuckerindustrie, die sich jahrelang für den Erhalt der Zuckermarktordnung einsetzte, um ihren Zucker möglichst teuer zu verkaufen, steht die zuckerverarbeitende Industrie gegenüber (Süß- und Backwarenhersteller, Getränke- und Konservenproduzenten). Diesen Zuckerverwendern, die sich über möglichst billigen Zucker freuen, stehen Verbraucherschützer und Gesundheitsexperten gegenüber, die vor zuviel Zucker in der Ernährung warnen. Wer von ihnen spricht die Wahrheit? Wer nicht?

Es ist vollkommen legitim, seinen eigenen Standpunkt darzustellen und dabei die Argumente besonders zu betonen, die diesen unterstützen. Dass jeder Lobbyist — und dazu zähle ich ausdrücklich auch die NGOs, wie das obige Zuckerbeispiel zeigt — pro domo spricht, ist doch völlig klar. Dass man Gegenargumente mitunter verschweigt, auch. Man soll nur nicht denken, die Politiker könnten dies nicht interpretieren. Sie hören schließlich alle Beteiligten an und wägen die vorgebrachten Argumente und Fakten ab. Aus diesem Grund kann es sogar sehr sinnvoll sein, die Argumente der »Gegenseite« aufzugreifen, um ihnen die eigenen gezielt entgegenzustellen.

Eine echte Lüge macht überhaupt keinen Sinn. Denn sie fällt sofort auf und untergräbt die Glaubwürdigkeit des Lobbyisten. Damit erzeugt sie Zweifel hinsichtlich aller anderen vorgebrachten Fakten und Argumente und schwächt so alle eigenen berechtigten Interessen.

Noch etwas: Nur wenige Menschen können überhaupt glaubwürdig lügen. 80 % der Kommunikation finden auf nonverbaler Ebene statt. Die »Überzeugungsarbeit« eines Lobbyisten ist daher in erster Linie ein zwischenmenschlicher Vorgang auf der Beziehungsebene. Wer aber nicht authentisch, sicher und überzeugend »rüberkommt«, weil er insgeheim eine Lüge oder Halbwahrheit verbirgt, braucht eigentlich gar nicht erst anzutreten.

Dieses Argument trifft schließlich sogar auf Verlautbarungen in den Medien zu. Denn obgleich hier der größte Anteil der Kommunikation verbal funktionieren muss, stehen doch alle Aussagen des Lobbyisten unter »Überwachung« und »Gegenrede« seiner politischen Gegner. In Zeiten von Wikipedia und Twitter sind Lügen und Halbwahrheiten nicht lange aufrechtzuerhalten. “Lügen haben kurze Beine”, wussten schon unsere Großeltern. Das sollten die Politikstudenten im Hinterkopf haben, wenn sie das nächste Mal vor unserem Büroturm stehen.