Quelle: FAZ vom 06.02.2020

»Dumm und frech, das passt zusammen«

Im Land der Dichter und Denker werden Emotionen von den meisten politisch unterschätzt.

Die AfD und die Parallele zur Weimarer Republik

Anhand zahlreicher Zitate aus »liberalen« und »republikanischen« Tageszeitungen der 30-Jahre der Weimarer Republik zeichnet Rüdiger Graf in der heutigen FAZ die eine unwiderlegbare Parallele der aktuellen Parteienlandschaft und der der späten Weimarer Republik: Während die »alten« Parteien in einem rational-moralisch geprägten Diskurs verfangen sind, werden sie von der »neuen« Partei auf der emotionalen Schiene angegriffen. Hier erscheinen sie hilflos. Sie fragen sich:

Wie kann es sein, dass die Wähler das unvollständige und widersprüchliche Programm der neuen Parteien nicht erkennen?

Die alten Parteien beobachten, dass neue Parteien mit einfachen Parolen direkt auf – nicht immer hehre – Gefühle der Wähler abzielen. Kurz: Sie stellen fest, dass die Wähler der neuen Parteien entweder nicht nachdenken können oder wollen.

Beides ist letztlich aber eine arrogante und herablassende Einschätzung der Wähler, um deren Stimmen man sich ja auch bemüht. Dabei kann es also nicht bleiben. Noch aber, so stellt Rüdiger Graf fest, haben die etablierten Parteien in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts genauso wenig eine Antwort auf den neuen politischen »Stil« wie in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts.

Die USA machen es (mal wieder) vor

Auch in den USA verfallen die Sitten. Eine emotionale Strategie hat den Ausgang der letzten Präsidentschaftswahl bestimmt. Seitens der Demokratischen Partei ist die Antwort auf einen Stil, der von Großspurigkeit und Halbwahrheiten geprägt ist, allerdings spätestens seit gestern offen emotional. Die Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nanci Pelosi, zerriss demonstrativ das Redemanuskript der State of the Union Address von Präisdent Donald Trump.

Trump’s presidency has laid bare what should have been obvious to Democrats long ago — they must play hardball too.
John Gruber

Auch der politische Gegner steigt nun also unverholen auf einen emotionalen Wahlkampf ein. Fakten und Argumente – das zeigt auch das Impeachment-Verfahren – führen (zur Zeit) nicht weiter.

Diese Beobachtung soll nicht den Schluss nahelegen, in Deutschland müsse es ebenso sein. Unserer Parteiensystem ist vielfältig, nicht bipolar, wir leben in einer repräsentativen Demokratie, nicht in einer Präsidialdemokratie. Dies sind wichtige Unterschiede mit der Chance, vielfältigere und weniger populistische Antworten auf die Populisten zu finden.

Gefühle im Lobbying

Auch in der Vertretung von Wirtschaftsinteressen gibt es die beschriebene Dichotomie von Vernunft und Gefühl. In der Lebensmittelindustrie kennen wir beispielsweise die Diskussion um die Kennzeichnung »gesunder« und »ungesunder« Lebensmittel seit Jahrzehnten. Während die Politik – meist getrieben von NGOs – hier oft an die Gefühle der Verbraucher appelliert, versuchte die Industrie vergeblich, »wissenschaftlich korrekte« Nährwertinformationen zu verteidigen. So sollte die »einfach verständliche, aber falsche« Ampelkennzeichnung abgewendet werden.

Nutri-Score

Das Konzept hat versagt. Emotionen lassen sich mit Argumenten nicht schlagen. Um im Beispiel zu bleiben: Ein Kompromiss hat, nach 20 Jahren intensiver Diskussion, gesiegt: Der Nutri-Score ist eine Ampelkennzeichnung, die vorgibt auf wissenschaftlichen Kriterien aufzubauen. Durchgesetzt hat er sich, nachdem sich große Lebensmittelunternehmen – u. a. Danone, Nestlé, Frosta – für den Nutri-Score entschieden hatten. Die Lobby-Abteilungen dieser Unternehmen haben rechtzeitig erkannt: Man muss die Emotionen der Verbraucher für sich nutzen, das mögliche im Blick behalten und flexibel sein. Einige Rezepturen werden umgestellt werden müssen. Aber die Industrie ist jedenfalls an der Gestaltung des Systems beteiligt. Das ist besser als sich auf »vernünftige« Argumente zu versteifen und am Ende »emotional überstimmt« zu werden.

Kognitive Dissonanz: Wenn Kopf und Bauch nicht dasselbe wollen

Ein ähnliches Argument lässt sich in der aktuellen Klimadiskussion aufmachen. Seit mindestens dreißig Jahren deuten alle seriösen Klimamodelle auf einen beschleunigten anthropogenen Klimawandel. Aber diese wissenschaftlichen Fakten sind komplex und sperrig. Erst als vor zwei Jahren »die Flüsse rückwärts flossen« und die Hitze Deutschland wochenlang gefangen hielt, wurde der Klimawandel fühlbar. Dieses Gefühl ist der Resonanzboden für die emotionale Kampagnen von Greta Thunberg und anderen. Sie haben Recht. Nur über das Gefühl lässt sich auch der Verstand dazu bringen, etwas einzusehen, was er, weil es unangenehm ist, nicht wahrhaben möchte. Nur Kopf und Bauch gemeinsam können tragfähige Entscheidungen treffen und neue Handlungsmuster dauerhauft etablieren.