
Ratlose Lobbyisten auf der Suche nach Authentizität
Der Mediendialog des Lebensmittelverbands Deutschland 2019 in einem Wort: Tiefe Verunsicherung im Lager der Lebensmittel-Lobbyisten. In einer Keynote war gar vom »Schulungsbearf für die Generation Ü 40« die Rede. Doch warum eigentlich?
»Algorithmen, Influencer & Co. – die Gesetze der digitalen Welt«
Am 11.09.2019 hatte der Spitzenverband der Ernährungswirtschaft Kommunikationsexperten aus der Lebensmittelindustrie zur Diskussion über neue Medien nach Berlin eingeladen. Die Idee war wohl, dass die Industrie aus den Fehlern anderer im ungewohnten Umgang mit Influencern wie Rezo lernt. Allenthalben tat man sich aber schwer.
Wie Algorithmen den Diskurs bestimmen
Das Ziel ist die Maximierung der Verweilzeit. Denn Zeit ist Geld.
In der Eingangskeynote erklärte Prof. Dr. Christian Stöcker zunächst, wie Algorithmen auf Facebook, Twitter und Co. den Fluß der Informationen bestimmen: oben steht, was die höchste Wahrscheinlichkeit hat, den Nutzer auf der Plattform zu halten. So sortieren Soziale Netzwerke nicht nach Relevanz und erst recht nicht nach Wahrheitsgehalt eines Beitrags, sondern nach Attraktivität und Interessantheit. Interessant ist natürlich das Neue, aber oft eben auch das Abwegige, das Unverständliche, das Extreme. So kommt es, dass »Fake news« prominenter dargestellt werden als »echte Nachrichten«.
So weit, so bekannt. In der anschließenden Diskussionsrunde gelang es den Diskutanten, darunter Matthias Spielkamp und Christoph Minhoff nicht, daraus Ansätze für eine Regulierung sozialer Netze abzuleiten, so sehr sie sich auch bemühten. Jedem Versuch, Einfluss auf sie auszuüben, entziehen sich Google, Facebook und Co., trotz intensiver »Brieffreundschaften« mit Stöcker und Spielkamp, wahlweise, weil sie (1) ihre Algorithmen nicht offenlegen, (2) keine europäischen Unternehmen sind und (3) Geld verdienen wollen.
Influencer oder Werbefigur?
Wer geglaubt hatte, dass so genannte Influencer autenthische »einfache« Jugendliche mit einem besonderen Faible für bestimmte Lifestyle-Produkte seien, wurde von Marlis Jahnke eines besseren belehrt. Sie betreibt eine Agentur, die Werbetreibende mit Tausenden von Influencern »matcht«. Kurz: Gegen Geld promoten Menschen – und zwar jeden Alters! – auf YouTube und Co. einfach alles. »Wo ist der Unterschied zwischen Ihnen und einer Werbefigur?«, fragte Christoph Minhoff die Polit-Influencerin Diana Kinnert. Die Antwort fiel eloquent und geschliffen aus, aber die Grenze zwischen Bezahlung und Überzeugung bleibt schwammig.
Was ist ein Influencer? Typischerweise: Wer mehr als 10.000 Follower in sozialen Netzwerken hat. Handelt es sich um Fliegenfischen, reichen auch 100.
Auch die zweite Diskussionsrunde versuchte vergeblich, die neuen Kommunikationsformen zu verstehen. Der Zuckerlobbyist Günther Tissen meinte gar, er sei selbst ein Influencer. Dabei befindet sich sein Verband noch im Experimentierstadium mit sozialen Medien.
Neue Medien – wirklich neu?
Auch die Zuhörer der Veranstaltung – die leider nur in der Kaffeepause mitdiskutieren durften – blickten fragend umher. Denn eines hat der Mediendialog nicht geschafft: Einen Diskurs über den Diskurs zu führen.
Erstens wurde nicht genug differenziert: Twitter, Facebook, Instagram, Google: Es ging munter durcheinander, mal drehte sich das Gespräch um das Ranking von Nachrichten, mal um den Wahrheitsgehalt von Meldungen, mal um den Umgang mit Meinungen. Nikolaus Blome und Jakob Augstein versuchten, Online-Medien und Printmedien gegeneinander abzugrenzen und konnten sich doch wieder nicht auf eine gemeinsame Sicht der Dinge einigen.
Google, das ist Schwarmintelligenz. Und der Schwarm ist nicht immer intelligent.
– Nikolaus Blome
Zweitens wurde nicht deutlich, warum die Sozialen Medien in der Kritik stehen. Im Kern sind sie Plattformen, auf denen sich jeder frei äußern kann, auf denen jeder a priori eine gleichwertige Stimme hat. Kritik an den Sozialen Medien ist entweder Kritik an dieser Form der Basisdemokratie oder daran, dass sie in Wirklichkeit nicht funktioniert:
Verzweifelte Suche nach Regeln
Stöcker und Blome ging es um die Wahrheit in sozialen Medien, Spielkamp und Augstein wollten den Einfluss mächtiger Meinungsführer begrenzen, Jahnke wollte den Zustand der Gesetzlosigkeit so weit wie möglich bewahren, um weiter viel Geld verdienen zu können, und nur Kinnert sprach sich dafür aus, sich auf den Diskurs an sich einzulassen, »ohne zuvor den Mitgliedsausweis vorzuzeigen«. Am liebsten hätte jeder das Internet ganz nach seinen eigenen Vorstellungen strukturiert; am besten brachte das Konstantin Kuhnle auf den Punkt:
Wir sind gut darin, das für alle gut zu finden, was wir selbst am besten können.
– Konstantin Kuhnle MdB (FDP)
Authentisch war vor allem Tissen: Er hätte gern auf Augenhöhe mitdiskutiert, war aber der Meinung, die neuen Medien noch nicht richtig verstanden zu haben. Doch das stimmt nicht: Gerade er hat verstanden, dass man in den sozialen Medien mitreden kann, wenn man nur möchte, und dass man eigentlich nichts falsch machen kann.
Man kann die sozialen Medien nicht von außen kontrollieren, man muss sie von innen mitgestalten.
Natürlich gibt es keine Garantie, dass die Meinung, die man dort äußert, auch in der intendierten Weise erscheint, verstanden wird oder Reaktionen auslöst. Das ist vielleicht das eigentlich neue: dass wir – im Gegensatz zum Stammtisch in der Eckkneipe – am Stammtisch »Internet« nicht absehen können, welche Wirkungen unsere Äusserungen haben.
Die neuen Medien entziehen sich der Kontrolle. Und darum geht es: Wer die Medien kontrolliert, kontrolliert den Diskurs. Wer den Diskurs kontrolliert, kann seine eigenen (Macht-)Interessen leichter durchsetzen. Der beste Weg, mit den neuen Medien umzugehen, ist also, sie zu nutzen, und zwar so vielfältig wie möglich. Das Chaos entzieht sich der Regulierung, und das ist gut so.