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Warum gibt es in Deutschland so viele Verbände?

Warum gibt es so viele Verbände? Kann es sein, dass die Existenz vieler selbständiger Fachverbände kein historischer Fehler, sondern sinnvolle Absicht ist?

In Deutschland gibt es mehr als 500.000 Verbände und Vereine – ein historischer Irrtum?

Nach dem zweiten Weltkrieg, so lautet eine gern wiederholte Geschichte, haben die Unternehmen der Ernährungsindustrie einen Fehler gemacht und für jede ihrer Teilbranchen einen eigenen Verband gegründet. So gibt es noch heute mehrere Dutzend Fachverbände in der Lebensmittelindustrie: einen für die Milchindustrie, einen für Süßwaren, zwei für Fleisch, zwei für Mühlen, zwei für Bier usw. Nur ganz selten finden diese zusammen zu größeren Einheiten (z. B. in einem gemeinsamen Verband für die Hersteller von Erzeugnissen aus Obst, Gemüse und Kartoffeln). Andere Branchen haben einen einzigen großen Verband, z. B. die Chemieindustrie, mit Abteilungen für die einzelnen Unterbranchen. Die Ernährungsindustrie hingegen hat einen winzig kleinen Dachverband ohne jede Fachkenntnis seiner einzelnen Branchen. In einer idealen Welt hätte man einen großen, starken Gesamtverband gegründet. In einer idealen Welt würde man heute alle Fachverbände und den Dachverband fusionieren und einen großen, starken Gesamtverband bilden. So hat es Roland Berger in einem Gutachten Ende der 90er-Jahre des vorigen Jahrhunderts auch vorgeschlagen; daraus ist aber bis heute nichts geworden.

Würde man wirklich? Kann es sein, dass die Existenz vieler selbständiger Fachverbände kein historischer Fehler, sondern sinnvolle Absicht ist?

Form Follows Function

Wenn man begründen will, welche Verbandsstruktur und -größe die richtige ist, muss man nach den Funktionen von Verbänden fragen. Über die Funktion von Verbänden ist bereits viel geschrieben worden, u. a. hier in Inside Lobbying. Als ein Beispiel sei der Verband des Verfassers genannt, der ganze sechs »Säulen« der Verbandsarbeit definiert:

Ziemlich umfassend, und zugleich ziemlich austauschbar. Was genau ist dieser Verband? Fachzeitschrift (»Information«)? Unternehmensberater (»Unterstützung«)? Statistiker (»Marktbeobachtung«)? Pressestelle (»Öffentlichkeitsarbeit«)?

  • Information: Schnelle und direkte Information über politische und rechtliche Entwicklungen
  • Unterstützung: Beratung und aktive Unterstützung bei relevanten produktbezogenen und rechtlichen Fragen und Verwaltungsangelegenheiten
  • Marktbeobachtung: Sammlung, Auswertung und Erstellung von branchenrelevanten Statistiken und Zahlenmaterial
  • Kommunikation: Pflege eines offenen (Mitglieder-) Dialogs zu politischen Themen
  • Lobbying: Vertretung der Mitgliederinteressen gegenüber den Entscheidungsträgern in der Politik auf nationaler und europäischer Ebene
  • Öffentlichkeitsarbeit: Aktive Information und Aufklärung der Öffentlichkeit über die vom Verband repräsentierten Bereiche

Dieser Ansatz führt nicht weiter. Stattdessen muss man nach dem USP sehen: Was genau macht einen Verband einzigartig? Was grenzt ihn von anderen Verbänden ab? Die Antwort: Es ist nicht, was der Verband tut, sondern wer er ist. Und ein Verband ist zunächst die Summe seiner Mitglieder.

Wer bin ich?, und wenn ja, wie viele?

Die Fachverbände der Ernährungsindustrie sind streng danach gegliedert, welchen Branchen ihre Mitglieder angehören bzw. zu welchen Branchen sie sich zugehörig fühlen. Unter Branche versteht man in der Ernährungsindustrie eine eng definierte Stufe im Wertschöpfungsprozess. Es gibt in der Regel Verbände auf der Stufe der so genannten ersten Verarbeitungsstufe (z. B. den Mälzerbund, den Verband deutscher Mühlen), der Stufe der Hersteller von Vorprodukten (z. B. den Backzutatenverband), der Stufe der Hersteller von »einfachen« Fertigprodukten (z. B. den Fruchtsaftverband) und der Stufe der Hersteller von zusammengesetzten Fertigprodukten (z. B. den Süßwarenverband oder den Verband der Hersteller kulinarischer Lebensmittel). Auf manchen Stufen gibt es zudem konkurrierende Verbände, je nach Größenstruktur oder Absatzmarkt der Unternehmen (z. B. den Bauernbund und den Verband der Ausfuhrbrauereien). Daneben existieren noch die Verbände des Ernährungshandwerks. Schließlich bilden abweichend von diesem Schema einige Verbände spezifische Interessen quer durch die Branchen ab wie das Tiefkühlinstitut.

Identität

Diese Branchenstruktur folgt im allgemeinen einem einzigen klaren Schema: Hier finden Unternehmen zusammen, die das gleiche herstellen, und sie grenzen sich von ihren Lieferanten und Kunden ab. Das wesentliche Merkmal dieser Verbände ist ihre Homogenität. Hier kommen Unternehmen mit gleichen Interessen und Problemen zusammen. Diese Verbände geben ihnen einen Ort, an dem sie sich mit ihresgleichen austauschen. Diese Verbände repräsentieren ihre Mitglieder wie es kein anderer könnte. Mit den Worten von Prof. Dr. Guido Quelle: »Sie verkaufen Identität.«

Know-how

Dies ist ihre Stärke, und daraus folgt eine weitere: In diesen Verbänden sammelt sich das geballte Know-how der Branche, und auch das Know-how über ihre Probleme. Spezialisierte Fachverbände sind Kompetenzzentren ihrer Branchen und damit ideale Repräsentanten, Sprecher und Lobbyisten. Sie müssen nicht wie größere Einheiten Positionen auf dem »kleinsten gemeinsamen Nenner« finden, sondern können zugespitzt argumentieren und klare Botschaften verbreiten.

Die vielen Fachverbände der Ernährungsindustrie existieren also, weil sie ihren Mitgliedern eine »Heimat« und Identität bieten, sie bestens kennen und ideal vertreten können. Ihr einziges Problem: Sie repräsentieren eben nur einen kleinen Ausschnitt der deutschen Wirtschaft und haben mitunter Schwierigkeiten, bei Politik und Öffentlichkeit Gehör zu finden. Deshalb arbeiten die meisten Fachverbände auch am effektivsten auf der Ebene der Ministerialbürokratie unterhalb des »Radars« der Politik. Die Bildung eines größeren Konglomerats, eines Gesamtverbands, würde ihnen mehr »Gewicht« verschaffen, aber andererseits auch ihr Profil schwächen. Es gibt daher Verbände mit nur drei Mitgliedern, die selbständig erfolgreich sind (z. B. der Verein der Zuckerindustrie), und es gibt breiter aufgestellte Verbände bzw. Verbunde von Verbänden (z. B. die der alkoholfreien Getränke).

Strukturen in Stein gemeisselt?

So, wie sich die Unternehmensstrukturen ändern, hat dies auch Auswirkungen auf die Struktur der Verbände. Größere Einheiten entstehen in der Regel, wenn Unternehmen fusionieren oder in andere Branchen diversifizieren. Vor der Jahrtausendwende etwa gab es im Bereich der pflanzlichen Erzeugnisse vier Verbände, aus denen im Rahmen von zwei Fusionen ein einziger (der BOGK) hervorgegangen ist. Dieser Prozess hat über zehn Jahre gedauert und ist noch nicht vollständig abgeschlossen.

Ob aus den noch bestehenden rund zwei Dutzend Verbänden der Ernährungsindustrie jemals ein einziger Gesamtverband geschmiedet werden wird, muss hier offen bleiben. Es ist aber fraglich, ob sich die Hersteller von »Fleisch«, »Milch«, »Süßware«, «Obst und Gemüse«, »Getränken« usw. jemals in einem großen Verband heimisch fühlen werden. »Spricht dieser Verband meine Sprache?«, wird stets der wesentliche Grund sein, einem Verband beizutreten.

Es wird viel über die »Leistungen« von Verbänden diskutiert – oben sind exemplarisch sechs »Säulen« der Verbandsarbeit angeführt worden. Doch diese Leistungen sind in aller Regel schwer messbar. Meist gelingt es Verbänden nur, im Gesetzgebungsprozess »Schlimmeres zu verhindern«. Objektiv messbar ist da nichts. Und obendrein stehen Verbände in Konkurrenz zu echten Unternehmensberatern, Rechtsanwälten, Lobby- und Medienagenturen. Wichtiger als die Verbandsarbeit ist die Verbandsidentität – nach innen und außen. Solange es eine heterogene Wirtschaft gibt, wird es daher auch eine Vielzahl von Verbänden geben. Das ist tatsächlich die ideale Welt.